Betagte Menschen erhalten in Heimen Psychopharmaka oftmals ohne medizinische Indikation. Die Bewohnervertreter fordern mehr Transparenz bei der Verabreichung solcher "Sozialpharmaka".

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Salzburg - Das Thema ist heikel - dem entsprechend ist Erich Wahl bemüht, jede Skandalisierung zu vermeiden. Das macht die Aussagen des Leiters der Bewohnervertretung in Tirol und Salzburg freilich um nichts weniger brisant: "Der Anteil der mit Psychopharmaka behandelten betagten Menschen in den Heimen wird ständig höher", sagt Wahl im STANDARD-Gespräch.

Zahlenmaterial über den Einsatz von Psychopharmaka in den rund 900 österreichischen Altenheimen mit rund 68.000 Plätzen hat er keines. Bei der Bewohnervertretung - sie vertritt ex lege alle Personen, die in Senioren, Jugend- oder Behindertenheimen untergebracht sind, die also unter das seit zehn Jahren geltende Heimaufenthaltsgesetz fallen - geht man aber davon aus, dass die deutschen Daten auf Österreich umlegbar seien. Nach einer Stichprobe des Münchener Amtsgerichtes haben 2011 mehr als 50 Prozent aller Münchener Heimbewohner Psychopharmaka erhalten, berichten deutsche Medien. Zu ähnlichen Zahlen kommt auch eine Hamburger Studie, heißt es auf der deutschen Onlinegesundheitsplattform onmeda. Im Schnitt gehen deutsche Psychiater von etwa 40 Prozent aus.

Tabletten zur Freiheitsbeschränkung

Allerdings handle es sich nur bei einem kleinen Teil der mit solchen Medikamenten behandelten betagten Menschen "um Bewohner mit psychiatrischen Grunderkrankungen", erläutert Wahl. Bei einem größeren Teil werden die Tabletten und Spritzen zur Freiheitsbeschränkung eingesetzt.

Das sei meldepflichtig, dann sorgt die Bewohnervertretung für die Überprüfung der Maßnahmen. 2013 sind von den österreichischen Seniorenheimen rund 10.000 Freiheitsbeschränkungen für betagte Heimbewohner gemeldet worden. Neben Seitenteilen an Betten oder Sitzgurten fallen auch Psychopharmaka darunter. Etwa jede vierte Freiheitsbeschränkung würde so erfolgen, sagt Wahl.

"Rechtsschutzlücke"

Oftmals gehe es aber nicht unmittelbar um die Freiheitsbeschränkung sondern um die Behandlung von Symptomen. "Unruhe, Schlaflosigkeit, Traurigkeit" entstünden, weil viele Bewohner sich im Heim, in der neuen Umgebung nicht zurechtfänden: "Ängste, Verzweiflung, Ärger sind Verhaltensmuster, die im institutionellen Leben mit fixen Essens- und Schlafenszeiten einen Krankheitswert bekommen und mit Psychopharmaka behandelt werden."

Und obschon dies eine "schwere Behandlung" sei und dafür die Zustimmung des Patienten oder – im Fall von Demenzkranken – des Sachwalters nötig sei, würde diese oft nicht eingeholt. Die hohe Zahl an "Behandlungen ohne Zustimmung" stellt für Wahl eine "Rechtsschutzlücke" dar, die es zu beseitigen gelte. Die Bewohnervertretung würde aktuell einen Vorschlag erarbeiten, wie die Verabreichung von Psychopharmaka transparenter werden soll.

Der zuständige Sektionsobmann in der Ärztekammer war am Dienstag für den STANDARD aus Termingründen für keine Stellungnahme erreichbar. (Thomas Neuhold, DER STANDARD, 19.11.2014)